Februar 17, 2011

Berlinale 2011: DAS SCHLAFENDE MÄDCHEN

Anfang der 70er Jahre im Umkreis der Düsseldorfer Kunstakademie. Die Jünger der Beuys-Schule wachsen zu autonomen Künstlern heran, unter ihnen auch der Video- und Performance-Artist Hans. Im zeitgenössischen Kontext von Rainer Kirbergs "Das schlafende Mädchen" ist er eine erfundene Figur, die ihr Leben nahezu rund um die Uhr filmt. In der aufkeimenden Videokultur findet Hans die ultimative Ausdrucksform seines ausgeprägten Künstleregos – werde, der du bist – und eine Antwort auf jene Frage, die ihn zwischen Kunsttheorie und Selbstaufgabe selbst noch in Alpträumen heimsucht: Was denn nun wirklich Kunst sei. Der Film, den wir sehen, ist von Hans montiertes Videomaterial. Ein fiktiver Künstlerfilm also, eine Fake-Doku, fingierte Selbstinszenierung.

Hans (Jakob Diehl) lässt die Videokamera überall laufen. Er filmt vor allem sich und sein Porträt, im Park, in der Universität oder vor weißen Wänden, die er zum Beispiel zur Demonstration filmischer Kadrierung nutzt. Eines Tages stößt er auf Ruth (Natalie Krane), eine verloren wirkende junge Frau, die im Stadtpark lebt. Hans nimmt sie mit zu sich, erklärt sie zur Protagonistin seiner Videos und weicht nicht mehr von ihrer Seite. Als Ruth beginnt, sich selbst künstlerisch zu verwirklichen, die Szene aufzusuchen und mit Hans’ bestem Freund Philipp (Christoph Bach) anzubandeln, sperrt er sie und sich selbst in sein Atelier ein. Anders als die Aktbilder von Ruth, die sie in der Akademie hat erstellen lassen und in denen Hans keinerlei Verbindung zwischen Künstler und Modell erkennen kann, möchte er mit seiner Videokunst zeigen, wer die mysteriöse Frau wirklich sei. In einer allmählich wahnsinnigen Atmosphäre drohen sich die Grenzen zwischen Leben und Lebenskunst aufzulösen.

"Das schlafende Mädchen" ist Paraphrase, Parodie und Aufhebung von Kunst zugleich. Er untersucht zunächst weder affirmativ noch pejorativ das wechselseitige Verhältnis zwischen Kunst und Künstler durch die Augen der Kamera eines fiktiven Charakters. Kirberg lässt seine Figuren über Philosophie sinnieren, was ihnen den bewusst komischen Charakter intellektueller Verbalneurotiker verleiht, und sie ihre theoretische Kunst leidenschaftlich in die Praxis umsetzen. Dem Film ist tiefes Verständnis, aber auch ein vage suspektes Gefühl für Kunst eingeschrieben. Kirberg, der selbst an der Akademie Düsseldorf studierte, hat während seiner vielen Filme, Projekte oder Installationen unter anderem mit Amanda Lear und Kenneth Anger zusammengearbeitet. Seine Studienzeit bezeichnet er als durchsetzt von der "Rudolf-Steiner-Ideologie".

Die Stimme des Regisseurs erhebt sich in "Das schlafende Mädchen" nie unmittelbar, Kirberg lässt seinen Film Hans’ Film sein. Und doch motiviert er den Zuschauer zu einem vorsichtigen Werturteil, zu einem Bewusstsein darüber, was Kunst kann und was sie nicht kann. Und was sie vielleicht nicht sein dürfe. Das Projekt von Hans, die Wahrheit "seiner" Ruth mittels Videodokument zu ergründen, muss scheitern. Kunst kann nicht abbilden, wie das Leben wirklich ist, und sie kann es auch nicht ultimativ erforschen. Als Hans verunsichert und hilflos erkennen muss, dass Ruth nicht der Mensch ist, den er versuchsartig zu entdecken glaubte, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich aus dem Fokus seiner Kamera zu verabschieden. Ist das eine Absage an die Kunst – oder doch erst der Beginn ihrer emotionalen Erfassung? Ein ungemein faszinierender Film.


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