November 09, 2006

Retro: SUSPIRIA (1976)

Regisseur Dario Argento entfernt sich mit "Suspiria" vom Giallo und entwickelt einen unverkennbar phantastischen Rahmen für die Geschichte einer jungen Amerikanerin, die an einer Freiburger Tanzschule ihre Ausbildung absolvieren soll. Rätselhafte Todesfälle und das auffällige Verhalten der Dienstleistenden bringen sie alsbald hinter das merkwürdige Treiben der vermeintlichen Akademie. Diese Handlung wird mit Mitteln umgesetzt, die eher in der Tradition von Geister- und Gotikhaushorror, denn der Kriminalerzählung eines Mario Bavas stehen.

Etwas so derart Bizarres, konsequent Fantasievolles hatte das Genre bis dato nicht kennen wollen, "Suspiria" ist ein Film ganz ohne seinesgleichen, bricht konsequent mit den Erwartungen des Publikums. Unmittelbar und ohne erkennbare Struktur findet es sich in einem stilisierten Alptraum wider, aus dem kein Erwachen möglich scheint. Suzy Benyon (Jessica Harper, "Phantom of the Paradise") ist darin Marionette und Führungsfigur zugleich, sie scheint den okkulten Kräften ihres Umfeldes ausgeliefert und bildet dennoch den für den Zuschauer einzig greifbaren Charakter, der die Handlung bestimmt.

Die junge Frau erscheint wie eine moderne Alice im Wunderland, bei der eine unheilvolle Begegnung auf die nächste folgt, doch Argentos Zauber und Magie manifestieren sich nicht in bunt-fröhlichen und lebendig wirkenden, sondern surrealistisch-bedrohlichen Bildern aus Gewalt und Terror: Messer, die tief in das Fleisch der Opfer eindringen (eine der wenigen Verbindungen zum vorherigen Sujet des Regisseurs), Hunde, die ihre Besitzer zerfleischen, Angriffe durch Fledermäuse und Insekten. Das Wunderland kehrt sich zu einem labyrinthischen Schreckenshort um, aus dem es nur dann ein Entrinnen geben kann, wenn das Grauen erkannt und besiegt wird.

Dieses Grauen bleibt lange gesichtslos. Es ist omnipräsent in den langen Gängen und Sälen, wenn Türen knarren, Fenster sich öffnen, der Wind zischt. Wie in einem expressionistischen Gemälde, das sich verselbstständigt hat, scheint diese Welt des Verschrobenen – die der Film nur in wenigen kurzen Szenen verlassen wird – ein Eigenleben zu führen. Erinnerungen an Roman Polanskis "Rosemary’s Baby" rufen sowohl Teile der Musikuntermalung, als auch atmosphärische Gestaltungsmittel hervor.

Unterstrichen wird die suggestive Rauschwirkung des Films durch ausgeklügelte technische Mittel, die in ihrem stellenweise aufdringlichen Erscheinen den Zuschauer regel- recht penetrieren. Dazu trägt neben den psychedelischen, schrillen Klängen der Band Goblin, die unter Fans vor allem auch für ihre Musik zu George A. Romeros "Dawn of the Dead" verehrt wird, in erster Linie die brillante Farbdramaturgie des Kameramannes Luciano Tovoli bei. Wie dieser es versteht, die von Argento gewünschte Trennung der Farben Blau, Gelb und Rot (Weiß kennzeichnet darüber hinaus zusätzlich die Unbeflecktheit der Heldin) als Ausdruck bedrohlicher Signale umzusetzen, und diese in einen Zusammenhang mit Verweisen und situativen Widererkennungseffekten zu bringen, das ist ebenso verstörend wie faszinierend und eines der Markenzeichen von "Suspiria".

Es ließe sich deshalb kaum leugnen, dass Argento sich völlig seiner formalen Energie für die visuelle Ausgestaltung des unbekannten Schreckens widmet, und seine prinzipiell banale Handlung – wie auch die nur grob angerissenen Figuren – dieser unterordnet. Das ist aber weniger ein Hinweis auf die Oberflächlichkeit des Erzählers, als eine Bestätigung seiner handwerklichen Qualitäten. Tatsächlich wird das Geschehen ausschließlich über die filmischen Mittel vorangetrieben, das Märchenhafte, Sinnliche dieser Farben, das Berechnende in der Ausstattung bilden die dramaturgische Dichte des Films – Argentos ungewöhnlicher, aber durchaus legitimer Stil. Dass die somit evozierte Künstlichkeit die Distanz des Zuschauers vergrößere – und damit zugleich die Spannung verdränge – mag ein bedauerlicher Nebeneffekt sein, dessen Bedeutung und Relevanz jedoch ganz und gar dem Rezipienten überlassen sei.


80%