Oktober 03, 2006

Retro: SULLIVAN'S TRAVELS (1941)

Er möchte einen Film drehen, einen der zeigt, wie die Welt wirklich beschaffen ist, wie es den armen Menschen da draußen ergeht, die im Hollywoodfilm für gewöhnlich ausgeblendet werden. Unverhüllt, mit ehrlichem Anliegen soll das Schicksal all der Hablosen auf die Leinwand gebracht werden. Mit dem sozialkritischen "O Brother, Where Art Thou?" erhofft sich Regisseur John L. Sullivan (Joel McCrea) den künstlerischen Durchbruch, er dreht diesen Film über und für die Leidtragenden der großen Depression, für die Menschen auf der Straße, in Gefängnissen, Güterwaggons oder Schlaflagern. Und dafür muss er selbst ein Teil dieser Wirklichkeit werden: Als Landstreicher getarnt zieht er hinaus, fest entschlossen, das prunklose Leben kennen zu lernen.

„I'm going out on the road to find out what it's like to be poor and needy and then I'm going to make a picture about it.” (Sullivan) –
”If you'll permit me to say so, sir, the subject is not an interesting one. The poor know all about poverty and only the morbid rich would find the topic glamorous.“ (Burrows) –
”But I'm doing it for the poor. Don't you understand?“ (Sullivan) –

”I doubt if they would appreciate it, sir.” (Burrows)


Sullivans Butler Burrows (Robert Greig) allerdings versucht vergeblich, ihn davon fernzuhalten, sich unter das Volk zu mischen, geschweige ihn zu überzeugen, dass sein Film weder das wohlhabende, noch das arme Publikum erreichen wird. Unbeirrt beginnt Sullivan sein Selbststudium. Die Eingangssequenz demonstrierte bereits die Fähigkeiten des Regisseurs, in diesem Film-im-Film-Prolog tragen zwei Männer einen dramatischen Konflikt auf einem rasenden Zug aus. Dass Sullivan darin nach eigenem Bekunden den Kampf zwischen dem Kapitalisten und dem einfachen Arbeiter schildert, geht angesichts einer effekthascherischen Inszenierung unter (tatsächlich aber wird diese Ebene in "Sullivan’s Travels" später wiederum wieder aufgegriffen).

Hinter all dem steht natürlich Preston Sturges ("Hail to the Conquering Hero"), und der macht sich hier einen großen Spaß aus der Darstellung seiner Figur, indem er mit ironischen Dialogen bereits in den ersten Minuten die offensichtliche Naivität von Sullivan unterstreicht. Abgesehen davon, dass sein filmisches Alter Ego eine Möglichkeit für viele selbstreflexive Momente bietet und ihn ausgiebig austeilen lässt: Wenn Sullivan den Kritikern abschwört, er sich mit Studiobossen herumschlagen muss oder er seine Filme einfach missverstanden sieht. Der Zuschauer entwickelt also rasch ein ungefähres Gespür für den Charakter.

Als Sullivan gemeinsam mit einer von Veronica Lake verkörperten Schauspielerin, deren Namen wir nicht erfahren werden, durch das Land zieht - und sich den ziellosen Pilgern anschließt - dann glaubt er hautnah zu erforschen, wie sich Armut, ein Leben ohne Perspektive anfühlt. Dass er dabei von einem Leibtrupp begleitet wird, soll der Sache nicht im Wege stehen, auch wenn seine sorgenvollen Freunde und Produzenten als Chorus auftreten und alles unternehmen, um das willkürliche Experiment berechenbar zu gestalten. Genannt sei nur die aberwitzige Szene, in der Burrows beim Bahnhofsschaffner telefonisch zu ermitteln versucht, wann es denn eigentlich die günstigste Zeit sei, um auf die fahrenden Züge zu springen.

Und so läuft Sullivan nie wirklich Gefahr, tatsächlich in eine unkontrollierbare Situation zu geraten. Wenn er im Gefängnis oder einer anderen Stadt landet, dann eilt man ihm schnell wieder zur Hilfe. In der ersten Hälfte des Films lässt Sturges also keinen Zweifel an der fehlenden Ernsthaftigkeit dieses Selbstversuchs, wie ein wiederkehrendes Motiv durchzieht die Rückkehr Sullivans nach Hollywood den Film, immer dann wenn es zu kritisch für ihn wird. Dabei ist die Traumfabrik ohne Konturen eingefangen, leere Straßen und verlassen wirkende Häuser dominieren diesen Ort. Der Widerspruch zwischen dem Willen, die Welt zu erkunden, den eingeschränkten Blickwinkel zu erweitern, und dem Zurückfallen in eine Rolle als wohlhabender Hollywoodregisseur ist dabei Ausdruck einer Möchtegern-Mentalität, die genau der Naivität und zuweilen auch Arroganz entspricht, die Sullivan eigentlich zu durchbrechen versucht.

Sturges ist ein Meister darin, seine Geschichte mit lebendigen Charakteren und furiosen Dialogen zu erzählen. Kein Moment vergeht, in dem nicht irgendeine Skurrilität hervortritt, und keine Szene, die nicht mit einem Twist schließt. So dynamisch und gleichzeitig so überraschend wie in "Sullivan’s Travels" kennt man den Regisseur, der mit den Erwartungen des Publikums spielt, der eine wahre Freude an den Reaktionen seiner Zuschauer gehabt haben muss. Er kommentiert die Handlung ironischer denn je, in allen erdenklichen Variationen: Ob es ein Kamingemälde ist, das sich mit jeder Einstellung im Hintergrund verändert (und die jeweilige Stimmung widerspiegelt), oder er die liebenswerte Oberflächlichkeit seines Sullivans anprangert, wenn dieser verdutzt fragt: „Who's Lubitsch?“.

Auch der unverzichtbare Slapstick kommt gewohnt unvermittelt zum Einsatz. Und tatsächlich übertrifft sich Sturges mit einer grandios geschnittenen, haarsträubenden Verfolgungsjagd gleich zu Beginn selbst - eine Sequenz, so übertrieben und absurd, dass kein Auge trocken bleibt, und bei der er den Slapstick unlängst als solchen parodiere, so der Monty Python-Angehörige Terry Jones. Sturges mischt viele Comedy-Arten wild durcheinander, er legt sich nicht fest, wechselt von purem Sarkasmus zu Momenten bitterer Ironie. Ähnlich wie bei seinen anderen Arbeiten nutzt er dabei erneut den Klimax, um den Film in eine andere Richtung zu lenken.

Denn als Sullivan eines Nachts seiner Schuhe beraubt wird, ist das der Beginn einer langen Verkettung von Missverständnissen, die den Regisseur auf eine unfreiwillige, aber umso wirkungsvollere Odyssee durch alle erdenklichen Lebenssituationen schickt. Das Glück verlässt ihn schließlich gänzlich, als er in ein Gefangenenstraflager gerät. Zu allem Überdruss wird auch noch der Mann mit Sullivans geklauten Schuhen tot aufgefunden – fortan trauern die Hinterbliebenen um ihren vermeintlich ermordeten Freund, und auch die junge Romanze mit „dem Mädchen“, wie sie im Abspann benannt wird, hat ein jähes Ende. Die wahre Armut erfährt der Regisseur nun am eigenen Leib: Zwangsarbeit, Hunger und Durst erlebt Sullivan wie einen (Alp)Traum, der von Sturges mit deutlichen Kontrasten entsprechend übertrieben in Szene gesetzt wird.

Diese zweite Hälfte markiert als moralische Konsequenz den unweigerlichen Leidensweg Sullivans. Erst als er und seine Mithäftlinge die Vorführung eines Zeichentrickfilms in einer alten Kirche besuchen, begreift er den Sinn seiner Arbeit als Filmemacher. Es ist der Humor der Späße und Dummheiten von Mickey Mouse und Goofy, der zu herzhaftem Gelächter der Menschen führt, der all ihre Probleme und Sorgen für den Moment vergessen macht. Auch Sullivan kann sich nicht mehr halten, lauthals lacht er mit den anderen. Diese Katharsis kommt wenig überraschend, behält Butler Burrows erwartungsgemäß Recht: Nicht wegen einer so realistisch wie möglich gehaltenen Darstellung von Armut und Trauer, einer nüchternen Erinnerung an das triste Dasein, sondern um der Alltagswelt zu entfliehen gehen die Menschen ins Kino. Ein kurzes Lächeln – und vergessen ist der Ernst des Lebens.

So sehr Sturges es auch zu verbergen sucht, das ist in diesem Moment ganz er selbst. "Sullivan’s Travels" ist ein wunderbar beseeltes Märchen, das hinter seiner satirischen Fassade viel verrät, nicht nur über den Regisseur Preston Sturges. Eine schönere Liebeserklärung an das Kino hat es vielleicht nie gegeben. Am Ende möchte Sullivan seinen Film schließlich nicht mehr inszenieren. Aber das haben dann ja auch die Coen-Brüder übernommen.


95%